Ethische Kritik an den ersten drei Präsidendten der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten

Wesentliche Zitate zur DVV und ihren frühen Präsidenten aus einer medizin-historiachen Veröffentlichung von Frau Sylvia Wagner:
"Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte, Arzneimittelstudien an Heimkindern"

Sozial.Geschichte Online 19 (2016), S. 61–113 (https://sozialgeschichteonline.wordpress.com;
https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf).
Zitierungen bitte dem Originaltext entnehmen:

Aus Kapitel 5.2: "Richard Haas wurde 1910 in Chemnitz geboren. 1937 trat er der NSDAP bei. Ab Sommer 1942 war er Dozent für Hygiene an der Universität Marburg. 1943 trat Haas der SS bei. Nach dem Krieg befand er sich zunächst in alliierter Internierung und übernahm anschließend, im Jahr 1950, die Leitung der humanmedizinischen Forschung der Behringwerke. Von 1955 bis 1975 war er Ordinarius für Mikrobiologie und Hygiene in Freiburg."

"5.4 Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung
Die Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung wurde am 31. August 1954 in Berlin als interdisziplinäre Institution der Ärzte und Wissenschaftler in Praxis, Klinik, Forschungsinstituten und Gesundheitsbehörden gegründet. Ihre Ziele waren erstens die Erforschung der Krankheit, zweitens das Finden wirksamer und sicherer Mittel zu ihrer Bekämpfung und drittens Hilfe für die an den Folgen der Krankheit Leidenden. Laut Richard Haas, der von 1966 bis 1980 Präsident der Vereinigung war, standen der Vereinigung in den ersten Jahren beträchtliche Mittel zur Verfügung. „Die Vereinigung, die ihr Vorbild in der National Foundation for Infantile Paralysis der USA sah, unterstützte in großem Maßstab alle Laboratorien und Kliniken, die sich in irgendeiner Weise mit der Polio befaßten“. Laut Satzung gehörten der Vereinigung als Mitglieder 1. die Bundesrepublik Deutschland und 2. die deutschen Länder und Berlin an. Unter 3. wird angegeben, dass verschiedene Verbände dem Verein beitreten können.

Erster Präsident des Vereins war Prof. Hans Kleinschmidt, emeritierter Ordinarius für Kinderheilkunde, der bei der erwähnten Konferenz in den Behringwerken teilgenommen hatte. Kleinschmidt wurde 1885 in Wuppertal geboren, 1937 trat er der NSDAP bei. 1944 war er im wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen, Karl Brandt, dem ranghöchsten NS-Mediziner. Bemerkenswert ist, dass auf der Homepage der Vereinigung, die heute „Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten e. V.“, heißt, als erster Präsident nicht Hans Kleinschmidt angegeben ist, sondern Prof. Dr. Albrecht Karl Kleinschmidt. Albrecht Karl Kleinschmidt war ebenfalls Mediziner und außerdem Mikrobiologe, aber er hatte offenbar keine NS-Vergangenheit. [Anmerkung durch H. Fickenscher: der bedauerliche Fehler auf der DVV-Homepage wurde korrigiert.]

1961 übernahm Prof. Gerhard Joppich den Vorsitz der Vereinigung. Joppich wurde 1903 in Hermsdorf geboren, ab 1932 war er Assistenzarzt bei Hans Kleinschmidt an der Kinderklinik in Köln. 1932 trat er der NSDAP bei, war Oberbannführer der Hitlerjugend und Abteilungsleiter im Amt für Gesundheit der Reichsjugendführung. Dritter Präsident der Vereinigung war, von 1966 bis 1980, Richard Haas, dessen NS-Vergangenheit bereits Erwähnung fand (siehe Abschnitt 5.2).

Somit waren die ersten drei Präsidenten der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung vormals Ärzte, die in die Verbrechensstruktur der nationalsozialistischen Medizin involviert waren. Neben ihnen weisen auch weitere Mitglieder der Vereinigung eine NS-Vergangenheit auf: Professor Walter Keller (Direktor der Universitäts-Kinderklinik, Freiburg/Br.), geboren 1894 in Heidelberg, trat 1937 der NSDAP bei und war auch Mitglied im NS-Lehrerbund. Ab 1942 war er an Polio-Übertragungsversuchen beteiligt. Er arbeitete mit dem Neuropathologen Julius Hallervorden zusammen, der bei der Ermordung von Kindern anwesend war und das „Material“ anschließend untersuchte. Walter Kikuth, Parasitologe, geboren am 21. Dezember 1896 in Riga, war ab 1929 Leiter des Chemotherapeutischen Instituts der IG Bayer Elberfeld. 1942 war er Teilnehmer einer Besprechung zur künstlichen Infizierung mit Malaria an Menschen, 1943 war er an Fleckfieberversuchen im KZ Buchenwald beteiligt. Von 1948 bis 1965 war er Direktor des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie sowie Ordinarius der Medizinischen Akademie in Düsseldorf. In mehreren Publikationen zur Untersuchung von Polioimpfstoffen an Heimkindern wird auf die Unterstützung durch die Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung hingewiesen. In einem Protokoll über eine Sitzung im Jahr 1960 wird über mehrere laufende Versuche in Kinderheimen berichtet. Wie in den Behringwerken, so ist auch hier die Einwilligung ein Thema. Der Präsident der Vereinigung, Kleinschmidt, äußerte die Ansicht, „daß sich durch persönliche Vereinbarungen zwischen Instituten, die solche Untersuchungen durchführen, und den Trägern von Kinderheimen bzw. den Leitern der Kinderheime weit mehr erreichen läßt als durch amtliche Empfehlungen“. Weiter heißt es: „Poetschke schlägt vor, daß man die ganzen Impfschwierigkeiten dadurch umgehen könne, daß man die Eltern bei der Aufnahme ihres Kindes in ein Kinderheim einen Revers unterschreiben lasse, daß sie mit allen notwendigen Impfungen und den damit verbundenen Blutentnahmen einverstanden seien“."

"5.5 Beteiligung von staatlichen Behörden und Institutionen
Wie gezeigt werden konnte, waren Bundesbehörden in die Poliomyelitisstudie in Westberlin an Heimkindern im Jahr 1960 involviert (siehe Abschnitt 5.1). In einer Publikation wird außerdem von „1962 im Robert-Koch-Institut in Berlin (Henneberg) und im Hygiene-Institut in Marburg (Siegert) durchgeführte[n] Untersuchungen bei Kindern in Heimen nach der Schluckimpfung“ berichtet. Da es in dem Bericht um die Frage der Virämie, also des Vorhandenseins der Viren im Blut, geht, kann davon ausgegangen werden, dass in den Instituten Blut der Kinder untersucht wurde. Das Robert-Koch-Institut für Infektionskrankheiten war seit 1952 Teil des Bundesgesundheitsamtes. Ebenso unterstützte die Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung, deren Mitglieder die Bundesrepublik Deutschland sowie die deutschen Länder waren, die Versuche an Heimkindern (siehe Abschnitt 5.4). Es ist davon auszugehen, dass die Gesundheitsbehörden des Bundes auch von den weiteren Studien mit Polioimpfstoff Kenntnis hatten, zumal diese ja auch publiziert wurden."

Stellungnahme des DVV-Präsidenten:
1. Die DVV distanziert sich von der vorherigen Rolle ihrer drei ersten Präsidenten in nationalsozialistischen Organisationen und kann diese Rolle bei der Bewertung derer späterer DVV-Tätigkeit nicht ignorieren.
2. Die DVV distanziert sich von Impfversuchen der DVV aus den frühen 1960er Jahren, sofern dabei die Vorbedingung der Information und Zustimmung der Erziehungsberechtigten der in diesen Studien beteiligten Kinder keine Berücksichtigung fand.
H. Fickenscher, DVV-Präsident

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